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Daniel Kulla: Monolog der Kulturen
Eine Lektion in Differentialismus und in Differentialismusresistenz gewöhnlicher Jugendlicher aus verschiedenen, wenn auch nicht ganz so verschiedenen Ländern. Von Daniel Kulla.

(gekürzt erschienen in Jungle World)

Das Programm für die knapp zwei Wochen Jugendaustausch in Kairo wirkte eher beliebig und schien für die Gelderbewilligung noch ordentlich mit Kulturfloskeln aufgefüllt worden zu sein. Da die deutsche Gruppe im Unterschied zu den als Teil von Vereinen und sozialen Zentren angereisten Gruppen aus Portugal, Italien, Libanon und der Türkei nur durch persönliche Bekanntschaften zustandegekommen war und es für uns somit eher als preiswerter Ägypten-Urlaub funktionierte, war uns über den Zweck der Veranstaltung und die organisierenden Strukturen wenig bis nichts bekannt. Uns war nur mitgeteilt worden, daß die EU-Suborganisation Euromed den Großteil der Kosten trug.

Nicht ahnend, wie weit wir damit in die Gesamtkonzeption eingreifen würden, versuchten wir uns von Anfang an den Workshops zur Präsentation nationaler Traditionen mit dem Verweis auf unseren fehlenden positiven Bezug zu entziehen. Das resultierte spontan weniger aus politischen Überlegungen, die in unserer sechsköpfigen Gruppe auch rar waren, und wurde von uns offen damit begründet, daß wir weder jemals Trachten tragen noch freiwillig Volksmusik hören würden, daß wir vielmehr diejenigen, die es tun, in aller Regel nicht leiden können und für reaktionäre Hinterwäldler halten.

Die Gastgeber waren zwar erstaunt, da sie gerade von den Deutschen Unterstützung für ihren Traditionslaufsteg erwartet hatten, nahmen es jedoch schon deshalb hin, weil sämtliche Bemühungen ihrerseits der ägyptischen Politik insofern ähnelten, daß jede Art offenen Streits mit allen Mitteln vermieden werden sollte.

In den folgenden Tagen erodierten die kulturellen Unterschiede sowohl innerhalb als auch außerhalb der Workshops. Die Portugiesen definierten sich fast völlig über Fußball, was vor allem als Einladung zum Mitmachen wirkte. Die Libanesen führten lediglich Historisches über die Phönizier aus, waren ansonsten jedoch in vielerlei Hinsicht die Modernsten und Hipsten von allen. Was die Italiener zu sagen hatten, blieb in ihrem schlichten Englisch unergründlich. Nachdem die Türken sich anfänglich noch den Kopf zerbrochen hatten, wie sie ihre Traditionen vorstellen sollten, die sie nicht besonders verehrten, schwenkten sie alsbald auf unsere Linie um und ließen Brauchtum Brauchtum sein. Nur die ägyptische Gruppe beharrte auf Dorfkleidern, Bauchtanz und festgefügten Wertvorstellungen.

Das hatte nicht zuletzt damit zu tun, daß sie im Unterschied zu allen anderen immer noch in dieser Tradition zu leben schienen. Trotz eines Auslandsstudiums wünschte sich Marian von ihrer hoffentlich baldigen Ehe drei Mädchen und drei Jungen, ansonsten sprach sie ungeachtet ihres bemerkenswerten Englisch genauso selten wie die anderen beiden Ägypterinnen - außer manchmal, wenn die Kerle nicht in der Nähe waren.

Auf der inhaltlichen Ebene geschah insgesamt wenig, im Grunde liefen die meisten Wortbeiträge auf positive Phrasen über soziales Engagement hinaus. Ihsan versuchte darzulegen, daß er nur zur Hälfte Türke, zur anderen Hälfte aber Bulgare sei, daß er daher mit den hehren Idealen von Nationen wenig anfangen könne; bei der Übersetzung des Begriffs citizenship für unsere des Englischen weniger mächtigen Deutschen stellten wir fest, daß es mit Staatsbürgerschaft nur eine Entsprechung gibt, die den Unterschied zwischen Autonomie und Volkszugehörigkeit augenblicklich klarstellt; das Wort Gleichheit tauchte gelegentlich auf, auch um die während dieses Austauschs erlebte Annäherung zu als fremd Vorgestellten zu beschreiben.

Als am letzten gemeinsamen Tag eine Abschlußdiskussion mit einem führenden Politiker und dem ägyptischen Organisator des Austauschs anberaumt wurde, waren die meisten der etwa 40 Anwesenden längst nach Art einer Klassenfahrt zusammengewachsen, während die Ägypter vielfach als Spielverderber wahrgenommen wurden, die ihre Frauen bewachen, keinen Alkohol trinken und uns ebenfalls davon fernhalten, die weitestgehend kritikunfähig und gesundbeterisch über Einwände hinweggehen und sehr biedere, oft auch erschreckend dumme Ansichten zum Besten geben. Nicht zuletzt aus Höflichkeit gegenüber den ja immerhin fast verschwenderisch großzügigen (und somit offenbar aus den oberen 0,5% der Bevölkerung stammenden) Gastgebern wurde mit der Kritik sparsam umgegangen und das ägyptische Kulturangebot begeistert aufgenommen.

Bei dem prominenten Politiker handelte es sich um Ali Deen Helal, bis vor wenigen Monaten Jugendminister und weiterhin Vizechef der Regierungspartei, seinen Auslandsaufenthalten in Kanada und anderen Commonwealth-Ländern ohne mehr als Fernseh-Englisch mit beinahe betontem arabischen Akzent entronnen. Er gab zunächst einige Platitüden von sich und erzählte Anekdoten aus seinem halbwegs bewegten Leben, die ihn zu der Feststellung führten, daß der Fortschritt unaufhaltsam sei und die Völker immer näher rückten. In dieser Weltlage gäbe es zwei Möglichkeiten, mit der Nähe umzugehen: Verständnis und Gewalt.

Aus meiner Sicht hätte er an dieser Stelle schließen können, da mir, anders als den anderen, sowohl schlagartig klar wurde, was das Lernziel des gesamten Projektes hier sein sollte, als auch, warum die EU sich diesen Austausch einiges kosten ließ. Denn um wen es sich bei den verständnisvollen und bei den gewaltsamen Ländern jeweils handeln sollte, war kein großes Rätsel mehr.

Er redete jedoch weiter und bot einen tiefen Einblick in die deutsch-arabische Trickkiste: "Wenn Menschen aus der Ersten Welt nur kommen, um Überlegenheit zu demonstrieren, dürfen sie sich über ein schlechtes Echo nicht wundern." Die vermutlich beabsichtigte Reaktion 'So sind wir ja gar nicht, er meint sicher nicht uns' blieb allerdings aus, Stirnkräuseln zeigte eher an, daß sich die jungen Leute angegriffen fühlten. Ohne die angekündigte Diskussion hier anzusetzen, eilte Helal gleich zum nächsten Kernsatz. Von seiner Konfession, deren Bekenntnis die Formel "Allah ist größer" beinhaltet, behauptete er: "Der Islam verbietet es, eine Religion als besser anzusehen." Nun war er in Fahrt und wirbelte die Zuordnungen durcheinander: Nationalität leite sich aus Kultur ab, diese wiederum aus der Religion, welche der natürliche Ausdruck von Sitte und Werten sei. In diesem Sinne wurden die Begriffe so synonym, daß anwesende Konfuzianer zu Höflichkeitsadressen dritten Grades gezwungen gewesen wären. 

Um all die Fiktionen unter ein Dach zu bekommen, bedurfte es nun der als schlimm vorausgesetzten Globalisierung, die Helal so beschrieb: "Einige drücken allen amerikanische Werte auf." Doch ihm könne niemand etwas vormachen, "ein Portugiese bleibe immer ein Portugiese. Kulturen haben Tausende von Jahren zu ihrer Entstehung gebraucht, also können sie nicht so schnell verändert werden." Überhaupt bestünden die Freuden des Lebens in seiner Vielfalt, diese sei auch die Essenz der Demokratie. Dafür böte gerade der spanische Regierungswechsel ein gutes Beispiel.

In dem Glauben, seine Gleichsetzungen hätten unsere Gehirne ausreichend aufgeweicht, ordnete er nun Globalisierung insgesamt einer schleichenden Konformisierung zu, der er Pluralismus entgegenhielt, natürlich nur den Pluralismus von Kulturen und Nationen. Der Grund für seine argumentative Strategie offenbarte sich dann ganz plötzlich, als er annahm, wir hätten im Rahmen unserer Workshops darüber gesprochen, warum ein Moslem vier Frauen haben kann. Das war zum einen nicht Thema gewesen und rief andererseits nun bei den meisten im Raum lebhaftes Gemurmel hervor. Unsere Einstimmung auf diese Schußveranstaltung hatte demnach das ganze Austauschprojekt über im Nahebringen von kulturellen Eigenarten bestehen sollen, mündend in unserem Einverständnis, auch die mittelalterlichen Vorstellungen von Unterwerfung und Frauenrolle als unantastbares islamisches Kulturgut anzusehen.

Obwohl Helal weiterhin nicht auf Diskussion aus zu sein schien, wurde die Unruhe so groß, daß der moderierende Chef des veranstaltenden ägyptischen Euromed-Partners JEEPC, Dr. Hani, dem leicht aufgebrachten Portugiesen Paulo das Wort erteilte, der in seiner gewohnt charmanten Art dennoch bestimmt darauf verwies, daß wir, also die Europäer, doch jetzt eine ganze Weile sehr aufmerksam und aufgeschlossen ihre Kultur kennengelernt hätten, von der Überlegenheitsdemonstration - diesen Vorwurf hatte Paulo also offensichtlich auf sich und uns bezogen – könne keine Rede sein. Umgekehrt frage er sich jedoch, ob sich denn umgekehrt die Gastgeber wirklich für unsere Kultur interessiert hätten, besonders für die modernen Elemente daran. Er hätte davon nichts bemerken können.

Wie es im weiteren Verlauf üblich werden sollte, wurde auf den Einwand überhaupt nicht eingegangen, stattdessen hob Helal zu einem längeren Monolog über die Rolle der Religion in ihrer, der islamischen, Kultur an. Wir würden ja beständig unterschätzen und seines Erachtens auch nicht richtig verstehen, wie wichtig ihnen die Religion sei, und das vor allem, so Helal, weil die europäischen Verfassungen nichts über Religion aussagen würden. In muslimischen Ländern wäre von vornherein festgelegt, daß die Religion der Islam sei.

Begleitet von allgemeiner Konsternierung beendete er seine Ausführungen ohne weitere Diskussion mit der Aussage, daß wir nach unserem Austauschprogramm hoffentlich wüßten, wie wichtig der Islam zum Schutz der einheimischen Kultur wäre und daß er dementsprechend nicht angetastet werden dürfe.

Er trank sein fünftes Glas Wasser aus und verließ den Raum.

In der abrupt entstehenden Pause, in der alle anderen ihr erstes Wasser bekamen, wurde der bisherige Verlauf mit Kritik überschüttet. Die schon etwas älteren Gruppenleiterinnen der Portugiesen und Libanesen regten sich über das Frauenbild auf, den anderen stieß der Mangel an Gesprächsbereitschaft übel auf. Der sollte sich nun jedoch ins erheblich anstrengendere Gegenteil verkehren.

Ich fragte Dr. Hani über Helal aus und äußerte mich vage in die Richtung, daß ich die Diskussion vermißt hätte. Er tat überrascht und wollte wissen, warum ich denn nicht einfach etwas gefragt hätte. Außerdem könnte ich das jetzt einfach nachholen und dort, wo ich stand, meine Frage – Betonung auf Singular – stellen.

Aus meiner Beobachterrolle rausgedrängt, wollte ich es nun richtig machen und schrieb mir die Frage auf, die ich dann so stellte: "Wenn es so schwer ist, kulturelle Besonderheiten zu ändern, wie war es dann möglich, daß die Europäer ihre Kultur mehrfach radikal verändert haben, zuletzt beispielsweise die Rolle der Frauen in historisch kürzester Zeit?"

Dr. Hani lächelte und sagte, daß er stolz darauf sei, seine Frau vom Schleier bedeckt zu wissen, weil es so im Koran stünde. Die Entscheidung, einen Schleier zu tragen, wäre ein kulturelles Symbol, es zu verbieten, wäre ein unzulässiger Eingriff in diese Kultur.

Ich sagte, daß ich glaubte, er hätte mich nicht richtig verstanden, da ich Frauenrechte nicht nur am Schleier festmachen würde, sondern vor allem an der Teilhabe am wirtschaftlichen und politischen Leben. Was sind schon Begriffe, schien sich Dr. Hani zu denken, und fragte rhetorisch, ob ich denn nach diesem Austauschprojekt glauben würde, Frauen in Ägypten wären vom sozialen Leben ausgeschlossen. Ich nickte, was er nicht bemerkte, weil er die Frage an die wie immer recht stillen Ägypterinnen richtete: "Ihr dürft doch am sozialen Leben teilnehmen, oder?"

Trotz der recht deutlichen Suggestion drucksen die drei jungen Frauen herum und antworten letztlich gar nicht, was Dr. Hanis Position endgültig erschüttert. Er legt zwar erst jetzt richtig los und fährt alle ihm bekannten Stilmittel und Verwirrungstaktiken auf, die er an einer britischen Universität gelernt haben will, überall recken sich jedoch die Arme der kopfschüttelnden Diskutierwilligen.

Die vielen Fragen sind pointiert und unmißverständlich formuliert, so räumt zum Beispiel Joanna aus Libanon ein, daß sie sich sagen lasse, der Koran wäre einst eine sinnvolle Reaktion auf bestimmte soziale Zustände gewesen und hätte für die Hygiene und gegen das Risiko sexueller Übergriffe vor 1400 Jahren vielleicht nützliche Antworten enthalten. Die Zeiten hätten sich jedoch geändert. "Wieso also werden die gleichen Antworten auf neue Fragen gegeben? Warum sollen wir in der Vergangenheit bleiben?"

Wie auch diese Frage gehen alle anderen in der rhetorischen Firewall von Dr. Hani verloren. Er sagt allenthalben, daß es sich um gute Fragen handeln würde (14 mal) und daß er eine geäußerte Meinung besonders mögen würde (11 mal), zur Refrainzeile wird mit gezählten 19 Wiederholungen jedoch der Satz: "Sie können es nicht ändern."

Cintia aus Portugal fragte, warum er das immer wieder sagen würde, obwohl sich doch das Christentum mehrfach verändert hätte, von den Konzilien über die Spaltungen und die Auslegungen.

Dr. Hani lobte erneut die Frage, woraufhin ich unerwidert zurückfragte, warum er sie dann nicht einfach beantwortete. Er verstieg sich erneut in reine Rhetorik, endend mit der bekannten Pointe: "Sie können das nicht ändern."

Cintia: "Aber es wurde geändert."

Er: "(Blablabla...), aber Sie können es nicht ändern."

Cintia: "Es ist doch ein historischer Fakt."

Er: "(Blablabla), aber Sie können es nicht ändern."

Und so fort.

Joanna deutete mir an, daß sie solche Diskussionen schon öfter geführt hätte und zielte dann erneut auf die Anwendung alter Lösungen für neue Probleme: "Wenn die Ausgangswerte einer Gleichung sich ändern, erhält man ein anderes Ergebnis. Das kann gar nicht so bleiben." Dr. Hani simulierte an dieser Stelle in der Tat erstmals eine direkte Antwort, indem er behauptete, die Menschen hätten sich gar nicht verändert, es gäbe immer noch Vergewaltigungen und Kriege, Seuchen und Armut. Joanna läßt nicht locker und hält dagegen, daß Menschen sehr wohl Bestrafung jetzt anders verstehen würden, da sie durch Bildung und Erfahrung Zusammenhänge besser überblicken könnten und deshalb nicht mehr unbedingt hingerichtet werden müßten.

Als er wiederum nicht antwortete, regte sich allmählich Tumult, der nicht mehr abebben sollte. Einige reichten Joanna Zettel durch, die sie dazu bewegen sollten, es einfach sein zu lassen, damit die groteske Vorstellung endlich zu Ende wäre. So gern sie aufhören wollte, so wenig konnte sie jedoch Dr. Hanis Blödsinn unbeantwortet lassen. Als er mal wieder vom Hundertsten ins Tausendste sprang und wörtlich behauptete, daß die gesamte Welt gegen den jüngsten Irakkrieg gewesen sei und nur ein Mann ihn begann, mußte auch ich noch mal nachfragen, welcher einzelne Mann das denn gewesen sein sollte. Selbstverständlich Bush, antwortete Dr. Hani, und leugnete sogleich Meinungsbildung und freie Presse in den USA. Ich fragte ihn, warum dann Bush in den Umfragen mächtig zulegen würde und Kerry verlieren, als er bekanntgab, er würde die Truppen zurückholen, aber er ging wieder nicht darauf ein.

Mir war nun restlos klar, wie dieses ganze Austauschprogramm gedacht war: sogenannter 'kritischer Dialog', um uns auf ihre Seite zu ziehen. Verschiedenheit zu predigen, ohne sich selbst auch nur einen Millimeter zu bewegen, sollte in der auch hiesig bekannten Art des Differentialismus für Uneinigkeit sorgen und bei uns die Vorstellung von Gleichheit und Veränderung vernebeln. Gut zu sehen, daß es nicht immer funktioniert. Er hatte am Ende niemanden überzeugt, im Gegenteil machten sich nahezu alle über ihn lustig und antworteten ihm mit seinen eigenen Phrasen: "I like your opinion."

Schließlich erhob sich der Doppelstaatler Ihsan: "Ich möchte etwas Lustiges anbringen. Wenn Sie für den Grundsatz 'Auge um Auge' sind und sagen, daß ein Mörder hingerichtet werden müsse, warum wird dann Küssen in der Öffentlichkeit auch mit dem Tode bestraft und nicht mit öffentlichem Küssen?"

Für die meisten war diese schöne Frage nach dem Gelächter zu urteilen ein würdiger Abschluß, Dr. Hani ruderte jedoch noch eine Weile herum ("We're talking issues here") und verwandelte noch ein letztes glorioses Eigentor. Die portugiesische Gruppenleiterin Rosaria nutzte ihre mütterliche Autorität und sagte, daß sie wohl für alle Europäer sprechen könnte, wenn sie körperliche Gefühlsäußerungen auch in der Öffentlichkeit einfach für menschlich hält, wenngleich eben nicht für verbindlich. Auftrumpfend, als wäre er sich nun sicher, zum Schluß doch noch Recht zu behalten, versuchte er wiederum, die Ägypterinnen als Kronzeugen für die kulturell tief verwurzelte islamische Verklemmtheit zu benutzen und fragte Lorin, ob sie sich vorstellen könne, jemanden in der Öffentlichkeit zu küssen. Sie überlegte einen Moment und schickte voraus, daß sie hoffe, niemand würde sie nun für verrückt erklären – niemand von ihren Landsleuten, sollte das offenkundig heißen -, doch sie würde gute Bekannte gern auch öffentlich küssen und ihren Freund ebenso. Sie würde nicht jeden dahergelaufenen Typen sofort küssen, aber abgesehen davon würde ihr das Verbot auch nicht wirklich einleuchten.

Nicht nur ich, auch einige andere um mich herum waren erfreut darüber zu hören, daß das praktisch bewußtlose Herunterbeten moralischer Formeln, von dem wir während der Diskussion ganz Ägypten befallen sahen, doch nicht mehr so reibungslos funktionierte und auch die stillen, entwestlichten jungen Frauen sich zumindest auf Nachfrage abweichend äußern konnten. Beim anschließenden Mittagessen herrschte denn auch Freude darüber vor, daß der entzweiende Unsinn nicht verfangen hatte.

Insgesamt funktionierte dieses Programm also in zwei Richtungen. Zum einen wurden wir weichgeklopft, um schlußendlich Frauenunterdrückung als Eigenart einer Kultur anzuerkennen, in die wir nicht eingreifen dürfen und die sich sowieso nicht ändern läßt, wie ja auch die Änderungen in unseren Ländern implizit als Blendwerk dargestellt wurden.

Zum andern versucht die EU, aufbauend auf den traditionell guten Beziehungen zwischen nationalem und arabischem Sozialismus, ihren Fuß in den Nahen Osten zu bekommen und sich bei Jugendlichen als die vernünftige und friedliche Alternative zum amerikanischen Interventionismus anzubieten.

Immerhin sind sie an unserer Gruppe ziemlich gründlich gescheitert.

Kulla at Commonwealth War Memorial Alamein
host: Daniel Kulla @ Systemausfall '90 Verlag