Das
Programm für die knapp zwei Wochen Jugendaustausch in Kairo wirkte
eher
beliebig und schien für die Gelderbewilligung noch ordentlich mit
Kulturfloskeln aufgefüllt worden zu sein. Da die deutsche Gruppe
im Unterschied
zu den als Teil von Vereinen und sozialen Zentren angereisten Gruppen
aus Portugal,
Italien, Libanon und der Türkei nur durch persönliche
Bekanntschaften
zustandegekommen war und es für uns somit eher als preiswerter
Ägypten-Urlaub
funktionierte, war uns über den Zweck der Veranstaltung und die
organisierenden
Strukturen wenig bis nichts bekannt. Uns war nur mitgeteilt worden,
daß die
EU-Suborganisation Euromed den Großteil der Kosten trug.
Nicht
ahnend, wie weit wir damit in die Gesamtkonzeption eingreifen
würden,
versuchten wir uns von Anfang an den Workshops zur Präsentation
nationaler
Traditionen mit dem Verweis auf unseren fehlenden positiven Bezug zu
entziehen.
Das resultierte spontan weniger aus politischen Überlegungen, die
in unserer
sechsköpfigen Gruppe auch rar waren, und wurde von uns offen damit
begründet,
daß wir weder jemals Trachten tragen noch freiwillig Volksmusik
hören würden,
daß wir vielmehr diejenigen, die es tun, in aller Regel nicht
leiden können und
für reaktionäre Hinterwäldler halten.
Die
Gastgeber waren zwar erstaunt, da sie gerade von den Deutschen
Unterstützung
für ihren Traditionslaufsteg erwartet hatten, nahmen es jedoch
schon deshalb
hin, weil sämtliche Bemühungen ihrerseits der
ägyptischen Politik insofern
ähnelten, daß jede Art offenen Streits mit allen Mitteln
vermieden werden
sollte.
In
den folgenden Tagen erodierten die kulturellen Unterschiede sowohl
innerhalb
als auch außerhalb der Workshops. Die Portugiesen definierten
sich fast völlig
über Fußball, was vor allem als Einladung zum Mitmachen
wirkte. Die Libanesen
führten lediglich Historisches über die Phönizier aus,
waren ansonsten jedoch
in vielerlei Hinsicht die Modernsten und Hipsten von allen. Was die
Italiener
zu sagen hatten, blieb in ihrem schlichten Englisch unergründlich.
Nachdem die
Türken sich anfänglich noch den Kopf zerbrochen hatten, wie
sie ihre
Traditionen vorstellen sollten, die sie nicht besonders verehrten,
schwenkten
sie alsbald auf unsere Linie um und ließen Brauchtum Brauchtum
sein. Nur die
ägyptische Gruppe beharrte auf Dorfkleidern, Bauchtanz und
festgefügten Wertvorstellungen.
Das
hatte nicht zuletzt damit zu tun, daß sie im Unterschied zu allen
anderen immer
noch in dieser Tradition zu leben schienen. Trotz eines
Auslandsstudiums
wünschte sich Marian von ihrer hoffentlich baldigen Ehe drei
Mädchen und drei
Jungen, ansonsten sprach sie ungeachtet ihres bemerkenswerten Englisch
genauso
selten wie die anderen beiden Ägypterinnen - außer manchmal,
wenn die Kerle
nicht in der Nähe waren.
Auf
der inhaltlichen Ebene geschah insgesamt wenig, im Grunde liefen die
meisten
Wortbeiträge auf positive Phrasen über soziales Engagement
hinaus. Ihsan
versuchte darzulegen, daß er nur zur Hälfte Türke, zur
anderen Hälfte aber
Bulgare sei, daß er daher mit den hehren Idealen von Nationen
wenig anfangen
könne; bei der Übersetzung des Begriffs citizenship
für unsere des
Englischen weniger mächtigen Deutschen stellten wir fest,
daß es mit Staatsbürgerschaft
nur eine Entsprechung gibt, die den Unterschied zwischen Autonomie und
Volkszugehörigkeit augenblicklich klarstellt; das Wort Gleichheit
tauchte
gelegentlich auf, auch um die während dieses Austauschs erlebte
Annäherung zu
als fremd Vorgestellten zu beschreiben.
Als
am letzten gemeinsamen Tag eine Abschlußdiskussion mit einem
führenden
Politiker und dem ägyptischen Organisator des Austauschs anberaumt
wurde, waren
die meisten der etwa 40 Anwesenden längst nach Art einer
Klassenfahrt
zusammengewachsen, während die Ägypter vielfach als
Spielverderber wahrgenommen
wurden, die ihre Frauen bewachen, keinen Alkohol trinken und uns
ebenfalls
davon fernhalten, die weitestgehend kritikunfähig und
gesundbeterisch über
Einwände hinweggehen und sehr biedere, oft auch erschreckend dumme
Ansichten
zum Besten geben. Nicht zuletzt aus Höflichkeit gegenüber den
ja immerhin fast
verschwenderisch großzügigen (und somit offenbar aus den
oberen 0,5% der
Bevölkerung stammenden) Gastgebern wurde mit der Kritik sparsam
umgegangen und
das ägyptische Kulturangebot begeistert aufgenommen.
Bei
dem prominenten Politiker handelte es sich um Ali Deen Helal, bis vor
wenigen
Monaten Jugendminister und weiterhin Vizechef der Regierungspartei,
seinen
Auslandsaufenthalten in Kanada und anderen Commonwealth-Ländern
ohne mehr als
Fernseh-Englisch mit beinahe betontem arabischen Akzent entronnen. Er
gab
zunächst einige Platitüden von sich und erzählte
Anekdoten aus seinem halbwegs
bewegten Leben, die ihn zu der Feststellung führten, daß der
Fortschritt
unaufhaltsam sei und die Völker immer näher rückten. In
dieser Weltlage gäbe es
zwei Möglichkeiten, mit der Nähe umzugehen: Verständnis
und Gewalt.
Aus
meiner Sicht hätte er an dieser Stelle schließen
können, da mir, anders als den
anderen, sowohl schlagartig klar wurde, was das Lernziel des gesamten
Projektes
hier sein sollte, als auch, warum die EU sich diesen Austausch einiges
kosten
ließ. Denn um wen es sich bei den verständnisvollen und bei
den gewaltsamen
Ländern jeweils handeln sollte, war kein großes Rätsel
mehr.
Er
redete jedoch weiter und bot einen tiefen Einblick in die
deutsch-arabische
Trickkiste: "Wenn Menschen aus der Ersten Welt nur kommen, um
Überlegenheit zu demonstrieren, dürfen sie sich über ein
schlechtes Echo nicht
wundern." Die vermutlich beabsichtigte Reaktion 'So sind wir ja gar
nicht,
er meint sicher nicht uns' blieb allerdings aus, Stirnkräuseln
zeigte eher an,
daß sich die jungen Leute angegriffen fühlten. Ohne die
angekündigte Diskussion
hier anzusetzen, eilte Helal gleich zum nächsten Kernsatz. Von
seiner
Konfession, deren Bekenntnis die Formel "Allah ist größer"
beinhaltet, behauptete er: "Der Islam verbietet es, eine Religion als
besser anzusehen." Nun war er in Fahrt und wirbelte die Zuordnungen
durcheinander: Nationalität leite sich aus Kultur ab, diese
wiederum aus der
Religion, welche der natürliche Ausdruck von Sitte und Werten sei.
In diesem Sinne
wurden die Begriffe so synonym, daß anwesende Konfuzianer zu
Höflichkeitsadressen dritten Grades gezwungen gewesen wären.
Um
all die Fiktionen unter ein Dach zu bekommen, bedurfte es nun der als
schlimm
vorausgesetzten Globalisierung, die Helal so beschrieb: "Einige
drücken
allen amerikanische Werte auf." Doch ihm könne niemand etwas
vormachen,
"ein Portugiese bleibe immer ein Portugiese. Kulturen haben Tausende
von
Jahren zu ihrer Entstehung gebraucht, also können sie nicht so
schnell
verändert werden." Überhaupt bestünden die Freuden des
Lebens in seiner
Vielfalt, diese sei auch die Essenz der Demokratie. Dafür
böte gerade der
spanische Regierungswechsel ein gutes Beispiel.
In
dem Glauben, seine Gleichsetzungen hätten unsere Gehirne
ausreichend aufgeweicht,
ordnete er nun Globalisierung insgesamt einer schleichenden
Konformisierung zu,
der er Pluralismus entgegenhielt, natürlich nur den Pluralismus
von Kulturen
und Nationen. Der Grund für seine argumentative Strategie
offenbarte sich dann
ganz plötzlich, als er annahm, wir hätten im Rahmen unserer
Workshops darüber
gesprochen, warum ein Moslem vier Frauen haben kann. Das war zum einen
nicht
Thema gewesen und rief andererseits nun bei den meisten im Raum
lebhaftes
Gemurmel hervor. Unsere Einstimmung auf diese Schußveranstaltung
hatte demnach
das ganze Austauschprojekt über im Nahebringen von kulturellen
Eigenarten
bestehen sollen, mündend in unserem Einverständnis, auch die
mittelalterlichen
Vorstellungen von Unterwerfung und Frauenrolle als unantastbares
islamisches
Kulturgut anzusehen.
Obwohl
Helal weiterhin nicht auf Diskussion aus zu sein schien, wurde die
Unruhe so
groß, daß der moderierende Chef des veranstaltenden
ägyptischen
Euromed-Partners JEEPC, Dr. Hani, dem leicht aufgebrachten Portugiesen
Paulo
das Wort erteilte, der in seiner gewohnt charmanten Art dennoch
bestimmt darauf
verwies, daß wir, also die Europäer, doch jetzt eine ganze
Weile sehr
aufmerksam und aufgeschlossen ihre Kultur kennengelernt hätten,
von der
Überlegenheitsdemonstration - diesen Vorwurf hatte Paulo also
offensichtlich
auf sich und uns bezogen – könne keine Rede sein. Umgekehrt frage
er sich
jedoch, ob sich denn umgekehrt die Gastgeber wirklich für unsere
Kultur
interessiert hätten, besonders für die modernen Elemente
daran. Er hätte davon
nichts bemerken können.
Wie
es im weiteren Verlauf üblich werden sollte, wurde auf den Einwand
überhaupt
nicht eingegangen, stattdessen hob Helal zu einem längeren Monolog
über die
Rolle der Religion in ihrer, der islamischen, Kultur an. Wir
würden ja
beständig unterschätzen und seines Erachtens auch nicht
richtig verstehen, wie
wichtig ihnen die Religion sei, und das vor allem, so Helal, weil die
europäischen Verfassungen nichts über Religion aussagen
würden. In muslimischen
Ländern wäre von vornherein festgelegt, daß die
Religion der Islam sei.
Begleitet
von allgemeiner Konsternierung beendete er seine Ausführungen ohne
weitere
Diskussion mit der Aussage, daß wir nach unserem
Austauschprogramm hoffentlich
wüßten, wie wichtig der Islam zum Schutz der einheimischen
Kultur wäre und daß
er dementsprechend nicht angetastet werden dürfe.
Er
trank sein fünftes Glas Wasser aus und verließ den Raum.
In
der abrupt entstehenden Pause, in der alle anderen ihr erstes Wasser
bekamen,
wurde der bisherige Verlauf mit Kritik überschüttet. Die
schon etwas älteren
Gruppenleiterinnen der Portugiesen und Libanesen regten sich über
das
Frauenbild auf, den anderen stieß der Mangel an
Gesprächsbereitschaft übel auf.
Der sollte sich nun jedoch ins erheblich anstrengendere Gegenteil
verkehren.
Ich
fragte Dr. Hani über Helal aus und äußerte mich vage in
die Richtung, daß ich
die Diskussion vermißt hätte. Er tat überrascht und
wollte wissen, warum ich
denn nicht einfach etwas gefragt hätte. Außerdem könnte
ich das jetzt einfach
nachholen und dort, wo ich stand, meine Frage – Betonung auf Singular –
stellen.
Aus
meiner Beobachterrolle rausgedrängt, wollte ich es nun richtig
machen und
schrieb mir die Frage auf, die ich dann so stellte: "Wenn es so schwer
ist, kulturelle Besonderheiten zu ändern, wie war es dann
möglich, daß die
Europäer ihre Kultur mehrfach radikal verändert haben,
zuletzt beispielsweise
die Rolle der Frauen in historisch kürzester Zeit?"
Dr.
Hani lächelte und sagte, daß er stolz darauf sei, seine Frau
vom Schleier
bedeckt zu wissen, weil es so im Koran stünde. Die Entscheidung,
einen Schleier
zu tragen, wäre ein kulturelles Symbol, es zu verbieten, wäre
ein unzulässiger
Eingriff in diese Kultur.
Ich
sagte, daß ich glaubte, er hätte mich nicht richtig
verstanden, da ich
Frauenrechte nicht nur am Schleier festmachen würde, sondern vor
allem an der
Teilhabe am wirtschaftlichen und politischen Leben. Was sind schon
Begriffe,
schien sich Dr. Hani zu denken, und fragte rhetorisch, ob ich denn nach
diesem
Austauschprojekt glauben würde, Frauen in Ägypten wären
vom sozialen
Leben ausgeschlossen. Ich nickte, was er nicht bemerkte, weil er die
Frage an
die wie immer recht stillen Ägypterinnen richtete: "Ihr dürft
doch am
sozialen Leben teilnehmen, oder?"
Trotz
der recht deutlichen Suggestion drucksen die drei jungen Frauen herum
und
antworten letztlich gar nicht, was Dr. Hanis Position endgültig
erschüttert. Er
legt zwar erst jetzt richtig los und fährt alle ihm bekannten
Stilmittel und
Verwirrungstaktiken auf, die er an einer britischen Universität
gelernt haben
will, überall recken sich jedoch die Arme der
kopfschüttelnden
Diskutierwilligen.
Die
vielen Fragen sind pointiert und unmißverständlich
formuliert, so räumt zum
Beispiel Joanna aus Libanon ein, daß sie sich sagen lasse, der
Koran wäre einst
eine sinnvolle Reaktion auf bestimmte soziale Zustände gewesen und
hätte für
die Hygiene und gegen das Risiko sexueller Übergriffe vor 1400
Jahren
vielleicht nützliche Antworten enthalten. Die Zeiten hätten
sich jedoch geändert.
"Wieso also werden die gleichen Antworten auf neue Fragen gegeben?
Warum
sollen wir in der Vergangenheit bleiben?"
Wie
auch diese Frage gehen alle anderen in der rhetorischen Firewall von
Dr. Hani
verloren. Er sagt allenthalben, daß es sich um gute Fragen
handeln würde (14
mal) und daß er eine geäußerte Meinung besonders
mögen würde (11 mal), zur
Refrainzeile wird mit gezählten 19 Wiederholungen jedoch der Satz:
"Sie
können es nicht ändern."
Cintia
aus Portugal fragte, warum er das immer wieder sagen würde, obwohl
sich doch
das Christentum mehrfach verändert hätte, von den Konzilien
über die Spaltungen
und die Auslegungen.
Dr.
Hani lobte erneut die Frage, woraufhin ich unerwidert
zurückfragte, warum er
sie dann nicht einfach beantwortete. Er verstieg sich erneut in reine
Rhetorik,
endend mit der bekannten Pointe: "Sie können das nicht
ändern."
Cintia:
"Aber es wurde geändert."
Er:
"(Blablabla...), aber Sie können es nicht ändern."
Cintia:
"Es ist doch ein historischer Fakt."
Er:
"(Blablabla), aber Sie können es nicht ändern."
Und
so fort.
Joanna
deutete mir an, daß sie solche Diskussionen schon öfter
geführt hätte und
zielte dann erneut auf die Anwendung alter Lösungen für neue
Probleme:
"Wenn die Ausgangswerte einer Gleichung sich ändern, erhält
man ein
anderes Ergebnis. Das kann gar nicht so bleiben." Dr. Hani simulierte
an
dieser Stelle in der Tat erstmals eine direkte Antwort, indem er
behauptete,
die Menschen hätten sich gar nicht verändert, es gäbe
immer noch
Vergewaltigungen und Kriege, Seuchen und Armut. Joanna läßt
nicht locker und
hält dagegen, daß Menschen sehr wohl Bestrafung jetzt anders
verstehen würden,
da sie durch Bildung und Erfahrung Zusammenhänge besser
überblicken könnten und
deshalb nicht mehr unbedingt hingerichtet werden müßten.
Als
er wiederum nicht antwortete, regte sich allmählich Tumult, der
nicht mehr
abebben sollte. Einige reichten Joanna Zettel durch, die sie dazu
bewegen
sollten, es einfach sein zu lassen, damit die groteske Vorstellung
endlich zu
Ende wäre. So gern sie aufhören wollte, so wenig konnte sie
jedoch Dr. Hanis
Blödsinn unbeantwortet lassen. Als er mal wieder vom Hundertsten
ins Tausendste
sprang und wörtlich behauptete, daß die gesamte Welt gegen
den jüngsten
Irakkrieg gewesen sei und nur ein Mann ihn begann, mußte auch ich
noch mal
nachfragen, welcher einzelne Mann das denn gewesen sein sollte.
Selbstverständlich Bush, antwortete Dr. Hani, und leugnete
sogleich
Meinungsbildung und freie Presse in den USA. Ich fragte ihn, warum dann
Bush in
den Umfragen mächtig zulegen würde und Kerry verlieren, als
er bekanntgab, er
würde die Truppen zurückholen, aber er ging wieder nicht
darauf ein.
Mir
war nun restlos klar, wie dieses ganze Austauschprogramm gedacht war:
sogenannter 'kritischer Dialog', um uns auf ihre Seite zu ziehen.
Verschiedenheit zu predigen, ohne sich selbst auch nur einen Millimeter
zu
bewegen, sollte in der auch hiesig bekannten Art des Differentialismus
für
Uneinigkeit sorgen und bei uns die Vorstellung von Gleichheit und
Veränderung
vernebeln. Gut zu sehen, daß es nicht immer funktioniert. Er
hatte am Ende
niemanden überzeugt, im Gegenteil machten sich nahezu alle
über ihn lustig und
antworteten ihm mit seinen eigenen Phrasen: "I like your opinion."
Schließlich
erhob sich der Doppelstaatler Ihsan: "Ich möchte etwas Lustiges
anbringen.
Wenn Sie für den Grundsatz 'Auge um Auge' sind und sagen,
daß ein Mörder
hingerichtet werden müsse, warum wird dann Küssen in der
Öffentlichkeit auch
mit dem Tode bestraft und nicht mit öffentlichem Küssen?"
Für
die meisten war diese schöne Frage nach dem Gelächter zu
urteilen ein würdiger
Abschluß, Dr. Hani ruderte jedoch noch eine Weile herum ("We're
talking
issues here") und verwandelte noch ein letztes glorioses Eigentor. Die
portugiesische Gruppenleiterin Rosaria nutzte
ihre mütterliche Autorität und sagte, daß sie wohl
für alle
Europäer sprechen könnte, wenn sie körperliche
Gefühlsäußerungen auch in der
Öffentlichkeit einfach für menschlich hält, wenngleich
eben nicht für
verbindlich. Auftrumpfend, als wäre er sich nun sicher, zum
Schluß doch noch
Recht zu behalten, versuchte er wiederum, die Ägypterinnen als
Kronzeugen für
die kulturell tief verwurzelte islamische Verklemmtheit zu benutzen und
fragte
Lorin, ob sie sich vorstellen könne, jemanden in der
Öffentlichkeit zu küssen.
Sie überlegte einen Moment und schickte voraus, daß sie
hoffe, niemand würde
sie nun für verrückt erklären – niemand von ihren
Landsleuten, sollte das
offenkundig heißen -, doch sie würde gute Bekannte gern auch
öffentlich küssen
und ihren Freund ebenso. Sie würde nicht jeden dahergelaufenen
Typen sofort
küssen, aber abgesehen davon würde ihr das Verbot auch nicht
wirklich
einleuchten.
Nicht
nur ich, auch einige andere um mich herum waren erfreut darüber zu
hören, daß
das praktisch bewußtlose Herunterbeten moralischer Formeln, von
dem wir während
der Diskussion ganz Ägypten befallen sahen, doch nicht mehr so
reibungslos
funktionierte und auch die stillen, entwestlichten jungen Frauen sich
zumindest
auf Nachfrage abweichend äußern konnten. Beim
anschließenden Mittagessen
herrschte denn auch Freude darüber vor, daß der entzweiende
Unsinn nicht
verfangen hatte.
Insgesamt
funktionierte dieses Programm also in zwei Richtungen. Zum einen wurden
wir
weichgeklopft, um schlußendlich Frauenunterdrückung als
Eigenart einer Kultur
anzuerkennen, in die wir nicht eingreifen dürfen und die sich
sowieso nicht
ändern läßt, wie ja auch die Änderungen in unseren
Ländern implizit als
Blendwerk dargestellt wurden.
Zum
andern versucht die EU, aufbauend auf den traditionell guten
Beziehungen
zwischen nationalem und arabischem Sozialismus, ihren Fuß in den
Nahen Osten zu
bekommen und sich bei Jugendlichen als die vernünftige und
friedliche
Alternative zum amerikanischen Interventionismus anzubieten.