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Daniel Kulla: Festgefahrene Antikörper in El Alamein

Das Programm für die knapp zwei Wochen Jugendaustausch in Ägypten wirkte eher beliebig und schien zum Zwecke der Gelderbewilligung noch ordentlich mit Kulturfloskeln aufgefüllt worden zu sein. Identität, Vielfalt, Wurzeln, Staatsbürgerschaft und alles - der Europäischen Union nach dem Munde.

Im Jahr 1942 befand sich das faschistische Deutschland auf dem Höhepunkt seiner Macht. Nur wenige Siege schienen noch zu fehlen, bis dem entfesselten Volk endlich, wie besungen, die ganze Welt gehören würde. Fast ganz Europa war besetzt oder alliiert, das wichtigste Fünftel der Sowjetunion erobert, die Antikomintern mit Japan geschmiedet. Rommels Panzer stießen im Verbund mit ihren italienischen Wunderwaffenbrüdern durch Nordafrika vor, im Begriff, die letzte globale Nachschublinie für die Briten im Nildelta zu unterbrechen und dann Palästina zu erreichen.

Umso mehr überraschte mich, daß wir zwischen überflüssigen Workshops über Traditionen und der zumindest lustig klingenden „Cooking fusion“ die Gedenkstätte von El Alamein besuchen sollten. Schon für den nächsten Tag war zwar wieder eine Diskussion über Krieg und Frieden angesetzt, die offensichtlich dazu führen sollte, daß wir Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung ächten. Dennoch freute ich mich auf den Anblick zerstörter deutscher Panzer und die Huldigung der ersten Nazi-Bezwinger.

Die Briten begriffen, daß es nicht nur um Zahl und Qualität des Kriegsgeräts ging, wie Sowjets und Amerikaner glaubten. Die deutsche Wunderwaffe war der tötende Soldat, der Muskelpanzer, der Charakterpanzer, der in dieser Phase des Krieges unbedingt von einer starken Übermacht aufgehalten werden mußte. Sie warfen der Wehrmacht in einem letzten verzweifelten Aufgebot die doppelte Menge an Panzern und die doppelte Truppenstärke entgegen.

Je näher der Tag rückte, desto stärker machte sich das Organisationstalent unserer Gastgeber bemerkbar. Da wir die Hälfte der Zeit mit dem Warten auf Busse, Kontrollen und verschiedene Ägypter verbracht hatten, mußten Teile des Programms übersprungen werden. Nachdem ich aus den ersten Gesprächen erfahren mußte, daß für sämtliche 40 Teilnehmenden dieses Austauschs Alamein gar nichts zu bedeuten schien, begann ich beizeiten, Propaganda zu machen und zu nerven. Ich erzählte auf die Nachfragen der türkischen, portugiesischen, italienischen und libanesischen Jugendlichen bezüglich Deutschland vor allem über den Zweiten Weltkrieg und seine anhaltende Nachwirkung. Gleichzeitig fragte ich die Gastgeber mindestens einmal pro Tag, ob wir wirklich nach Alamein fahren. Erst im Nachhinein wurde mir klar, daß wenigstens einige von den Ägyptern dachten, ich würde die 'Deutschen Helden' bewundern wollen. Bis zuletzt hieß es, sie würden versuchen, es im Programm zu behalten.

In den arabischen Ländern herrscht bis heute eine große Bewunderung der Nazi-Armee. Die psychologische Verkürzung zeigt sich dem verblüfften Ägypten-Besucher in der durchaus häufigen Formulierung, daß die Deutschen verstanden hätten, wie es geht: sie haben erst die Juden umgebracht und wurden dann wohlhabend. Dem möchten nicht wenige nacheifern.

Unsere Fahrt nach Alexandria - die gesamte restliche Zeit über waren wir in Kairo untergebracht, schon weil jede Bewegung aus der Hauptstadt hinaus einen Passierschein erfordert - schrumpfte von zwei Tagen mit Übernachtung auf einen Tag einschließlich An- und Abreise. Gegen Mittag angekommen, fragte ich unseren talentierten Organisator Ayman wie jeden Tag, ob wir nun nach Alamein fahren und fügte hinzu, daß wir ja wohl nicht mehr näher herankommen würden. Er antwortete: „Ich habe mit den Veranstaltern gesprochen und muß dir leider sagen, das wird schwierig.“ - „Heißt das also, wir fahren nicht?“ Er setzte wie gewohnt zu irgendeinem Sermon an, so daß ich lieber dazu überging, mithilfe eines anderen Ägypters die Transportlage zu klären. Wir handelten den nächstbesten Taxifahrer von 100 Euro auf 300 Ägyptische Pfund runter, weniger als die Hälfte und eine Summe, die mir für eine sechsstündige Reise an einen 114 Kilometer entfernten Ort fair erschien, die ich mir aber gern mit jemandem teilen wollte.

            In den zwei Schlachten von El Alamein, die aus der Nähe betrachtet um nichts weiter als einen Bahnhof geführt wurden, wurde die Wehrmacht gestoppt - was der Roten Armee bereits gelungen war; dann jedoch besiegt und zum Rückzug gezwungen - was ein weltweites Signal der Hoffnung aussandte. Die Vereinigung der deutsch-italienischen und japanischen Streitkräfte am Indus und die Ausradierung der jüdischen Siedlungen in Palästina war verhindert, die Nazi-Weltherrschaftspläne wurden im vielleicht letzten Augenblick durchkreuzt.

            Nun rannte mir die Zeit davon. Es ging auf 14 Uhr zu, sechs Stunden bis zur Rückfahrt nach Kairo. Wir liefen unterdessen durch die Zitadelle, die an dem Ort aufgebaut worden ist, an dem vorher der weltbewunderte Leuchtturm von Pharos gestanden haben soll, von dem aber natürlich nichts mehr erhalten ist. Alle waren über das verwinkelte Gebäude verstreut. Ich suchte nach Mitstreitern und fand keine. Meine predigtartigen Erklärungen über die erste und kriegswendende Niederlage der Wehrmacht kamen gegen die Aussicht auf gruppendynamisches Warten inmitten von nicht mehr existenten Weltwundern nicht an.

In der kollektiven Erinnerung ist El Alamein hinter Stalingrad und dem D-Day versteckt. Mehr noch als jene zeigt diese Schlacht, wie knapp der Krieg gewonnen wurde, was für eine Paralysierung die deutsche Tötungsmaschinerie bei den anderen Nationen ausgelöst hatte, mit welchem Bewußtsein sich eine Kriegswende gegen die deutschen Antikörper richten mußte.

Als auch noch der schlaue Libanese, mit dem ich mich im Bus über die von ihm innig ersehnte amerikanische Invasion in Syrien unterhalten hatte, absprang, weil er lieber die Bibliothek besichtigen wollte, beschloß ich, notfalls auch allein zu fahren. Ein nächstes Mal würde auf jeden Fall teurer werden. Als ich diesen Entschluß mitteilte, hieß es plötzlich, die Veranstalter hätten verboten, daß irgendjemand sich allein so weit von der Gruppe entfernt. Das leuchtete mir im Grunde ein - immerhin handelte es sich um eine Jugendveranstaltung. Auf meine Frage, wer von ihnen mich nun begleiten würde, gab es jedoch wieder nur Absagen. Durchweg lautete die Begründung, daß sie schon mal dagewesen wären und es wäre nicht so toll.

Es war nur ein Bahnhof, heißt es immer wieder, nur ein Bahnhof. Tausende von Kilometern lang waren die Nachschublinien der Briten geworden, während bereits Räder für den Sieg rollten, Millionen Reichsbahn fuhren und das synthetische Aufputschmittel Pervitin die U-Boot-Besatzungen befähigte, im Mittelmeer und im Atlantik tagelang Transporte zu versenken. Es war nur ein Bahnhof. Beinahe auch hier nur noch Schönheit, Siege und Lohn. Und der Rest fährt im Sonderzug zur Endstation.

Ich tat das einzig Vernünftige und flippte aus. Laut wies ich darauf hin, daß Alamein immerhin im Programm gestanden hatte und es wenigstens einer von ihnen fertigbringen konnte, aus Gastfreundschaft mitzufahren. Als Reaktion erschien zumindest der pragmatische Wael mit dem teuren Handy plötzlich wie ausgewechselt und lieh mir sogar einen Teil des Geldes. Mitfahren wollte natürlich weiterhin niemand. Sozusagen Pilgerfahrt: nur ich und Garam, der Taxifahrer.

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Garam hat vor der Handbremse eine Schachtel mit Papiertaschentüchern stehen, die er für verschiedene Zwecke benötigt. Er hat einen leichten Schnupfen und schnaubt in die Taschentücher, die er, wie später auch einen leeren Pizzakarton, aus dem Fenster entsorgt. Alle zwanzig Minuten putzt er die immer wieder neu verstaubenden Außenspiegel. Wenn er aus dem ganzen Körper sammelt und dann aus dem Fenster spuckt, gibt er in ein Papiertaschentuch, was als Rest hinterherkommt.

Die NS-Regierung hatte bereits Siegesfeiern für die Einnahme Ägyptens anberaumt. Wie schon im Falle Moskaus 1941, als letztlich Stalins Entscheidung, in der Stadt zu bleiben, die sichere Eroberung abwendete, konnte für die willenstrunkenen Faschisten eigentlich nichts mehr schiefgehen. Im Vertrauen auf die in jahrelanger Propagandaarbeit und in vielen Jahrzehnten der Volkszucht hervorgebrachten Volksgenossen in Uniform wurden die Feierlichkeiten für die Wacht am Nil geplant, für deutsche Grenzüberschreitung, deutsche Entgrenzung.

Garam hat sein Leben lang die deutschen Touristen zu den deutschen Helden gekarrt und ist einigermaßen verblüfft, daß ich den deutschen Friedhof gar nicht sehen will. Beziehungsweise, daß ich gar nicht weiß, daß es einen deutschen Friedhof gibt. Während wir still an den endlosen Reichensiedlungen am Mittelmeerstrand entlangfahren, versuche ich mir vorzustellen, warum es einen separaten Friedhof zu Ehren der glücklicherweise Besiegten, der Verursacher, der Verbrecher gibt. Also sehe ich mir die Obszönität an, ein großes Stück Kriegerarchitektur voller Friedensheuchelei und lyrischer Ergüsse über die Ehre und Menschlichkeit der hier an ihrem Handwerk endgültig verhinderten Tötungsfacharbeiter. Ich schreibe ins Gästebuch: Gedenkt nicht nur ihres sinnlosen Todes, sondern vor allem ihrer furchtbaren Taten.

„Ritterlich war eure Tat/Menschlich hier das Gesetz“ dichtete die Kriegsgräberfürsorge trotz der Eroberung von Raum für die Rassenhygiene, trotz des Kampfes gegen den Rest der Menschheit, trotz der Pläne für die völlige Zerstörung des zionistischen Projekts. Keine selbstbewußten Kämpfer, sondern bewußtlose Werkzeuge zur Durchsetzung eines Kollektivverbrechens, aufgegeilt am Heldentum, an den heißen Motoren, am Kraftstoff.

Garam rotzt zu meiner großen Freude auf die Treppe des Germanenrondells, dann ist er erneut verwundert, wie schnell ich weiter möchte. Der italienische Friedhof ist überraschenderweise noch viel größer und prunkvoller, wiederum abgesehen von der grundsätzlichen Überraschung, daß es ihn überhaupt gibt. Die Architektur so futuristisch wie damals. Hier in der Wüste müssen sie nicht so tun als ob. Es gibt einen Kilometer weiter noch einen Extrafriedhof für die italienische Luftwaffe. Garam bekommt mit, daß ich auch hier keine Angehörigen finden wollte und mustert mich auf dem Weg zurück zum Taxi, während er noch einige Male auf die weiße Paradestraße spuckt.  

Im Gegensatz zu meinem schamerfüllten Opa gilt vielen '42 weiterhin und gerade wieder als Höhepunkt der deutschen Entfaltung. Während er nicht nach Afrika wollte, wären sie nachträglich gern schlachtentscheidendes deutsches Wesen gewesen. Lehren Panzerschulen in der ganzen Welt, daß sich die Panzerkanonen um das Schlachtfeld duellieren und die Motoren es besetzen, rückten die Wehrmachtpanzer meist über Leichen vor.

Auf dem Weg zum Commonwealth War Cemetery überzeugt sich Garam mit mehreren Fragen davon, daß ich wirklich wegen der siegreichen Briten hier bin und hört sich nochmals schmunzelnd an, wie ich sage, daß es hier besser kein deutsches Ehrenmal geben sollte.

 Die riesige Gräberfläche der britischen Gedenkstätte macht greifbar, wieviele Menschenleben geopfert werden mußten, um die Nazis aufzuhalten. Die Tafeln sind informationslastig, die Anlage jedoch vor allem den gefallenen Einzelnen gewidmet. Sind die Wehrmachtssoldaten nach Gauen geordnet unter archaischen Steinplatten beigesetzt, die Italiener ganz und gar namenlos im Grab ihrer militärischen Einheit, so gibt es hier individuelle Gräber mit individuellen Inschriften, die deutlich sagen, daß jeder Tote fehlt, daß er geopfert werden mußte, daß er nicht hätte sterben sollen. Auf dem Eingangstor wird gewürdigt, daß sie nicht umsonst starben: Sie wendeten den Krieg.

Trotz der Übermacht auf britischer Seite war es eine knappe Entscheidung. Die Zigarette steckt den Kopf in den Sand. Ist okay für sie, war keine Strategie für die Briten, no. And another one bites the dust. I’m a prisoner of freedom, ten toes in the sand. Wenn sie über Leichen gehen, dann nur über unsere Leichen.

Ich laufe herum und mache Fotos, Garam fotografiert mich vor dem Denkstein "Their names liveth evermore". Ich sage ihm, daß sie das Richtige getan haben, daß es auf jeden von ihnen wirklich ankam. Dann gehen wir zurück zum Ausgang und erst jetzt sagt Garam, daß ein Verwandter von ihm hier beerdigt ist. Er wendet sich ab und geht beiseite, kämpft gegen die Tränen, die dennoch fließen. Ich bin verunsichert, mir fällt aber auf, daß er auf diesen Friedhof nicht gespuckt hat.

Fern waren sie, die Drei von der Kraftstoffstelle, die Wehrmacht auf dem Rückzug trocknete aus. Die deutschen Antikörper, festgefahren in der Wüste, die sie anderen Rassen und Nationen entreißen wollten, um auch sie zu säubern, können bis zum Schluß nur töten. Wie später in Berlin in den letzten Kriegstagen feuern Panzer ohne Sprit noch die letzten Granaten ab. Zum Schluß haben sich 42 Länder gegen Deutschland zusammentun müssen, um es an seinen Plänen zu hindern.

Garam hat vor der Handbremse eine Schachtel mit Papiertaschentüchern stehen, die er für verschiedene Zwecke benötigt. Für seinen Schnupfen, für die Außenspiegel, für die Spucke und für die Tränen. Er hat sein Leben lang die deutschen Touristen zu den deutschen Helden gekarrt und später im Taxi, nachdem er endlich nicht mehr weint, lange nachdem er mich vor einem Sherman-Panzer fotografiert hat, erzählt er, daß seine deutschen Fahrgäste stets nur ihre Helden sehen wollten, und wenn sie überhaupt auf den britischen Friedhof gingen, dann dezidiert zu den 'Feinden'. Er wollte nie mit und blieb deshalb immer draußen. Diesmal war das erste Mal gewesen, daß er mitgekommen war, daß erste Mal, daß er den Friedhof besucht hatte.

Wenn alle ihren Teil tun, wenn es nur Staatsbürger, Volksgenossen und Gottesliebe gibt, wird es immer wieder geschehen. Es funktioniert, weil wir funktionieren. Das kleine Glück tanzen, immer das gleiche kleine Glück. Kann ich zu Diensten sein? Ein eiskaltes Getränk für ein eiskaltes Volk? Kann ich Ihren Teller abräumen? Ich werde Deutschland verraten, schreiben aus dem Bruch mit dem Kollektiv.

Als ich am Abend sicher mehr als zehnmal nach meinen Erlebnissen gefragt werde und die Geschichte erzähle, begreifen die anderen endlich, worum es mir gegangen war und bedauern nun doch, nicht hingefahren zu sein. Ich sage, vielleicht war es gut so, ich mußte es vielleicht genauso tun.

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Enthält Samples aus dem Film "Desert Victory", aus einer Coca-Cola-Werbekampagne in Nazideutschland, aus einem Flugblatt der anarchistischen Gewerkschaft FAU sowie aus den Songs "Sonderzug zur Endstation" von Abwärts, "Another one bites the dust" von Queen und "Me by the sea" von Edie Brickell & The New Bohemians.


Kulla at Commonwealth War Memorial Alamein
host: Daniel Kulla @ Systemausfall '90 Verlag