Das Programm
für die knapp zwei Wochen
Jugendaustausch in Ägypten wirkte eher beliebig und schien zum
Zwecke der
Gelderbewilligung noch ordentlich mit Kulturfloskeln aufgefüllt
worden zu sein.
Identität, Vielfalt, Wurzeln, Staatsbürgerschaft und alles -
der Europäischen
Union nach dem Munde.
Im Jahr 1942
befand
sich das faschistische Deutschland auf dem Höhepunkt seiner Macht.
Nur wenige
Siege schienen noch zu fehlen, bis dem entfesselten Volk endlich, wie
besungen,
die ganze Welt gehören würde. Fast ganz Europa war besetzt
oder alliiert, das
wichtigste Fünftel der Sowjetunion erobert, die Antikomintern mit
Japan
geschmiedet. Rommels Panzer stießen im Verbund mit ihren
italienischen
Wunderwaffenbrüdern durch Nordafrika vor, im Begriff, die letzte
globale
Nachschublinie für die Briten im Nildelta zu unterbrechen und dann
Palästina zu
erreichen.
Umso mehr
überraschte
mich, daß wir zwischen überflüssigen Workshops
über Traditionen und der
zumindest lustig klingenden „Cooking fusion“ die Gedenkstätte von
El Alamein
besuchen sollten. Schon für den nächsten Tag war zwar wieder
eine Diskussion
über Krieg und Frieden angesetzt, die offensichtlich dazu
führen sollte, daß
wir Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung ächten. Dennoch
freute ich mich auf
den Anblick zerstörter deutscher Panzer und die Huldigung der
ersten
Nazi-Bezwinger.
Die Briten
begriffen,
daß es nicht nur um Zahl und Qualität des Kriegsgeräts
ging, wie Sowjets und
Amerikaner glaubten. Die deutsche Wunderwaffe war der tötende
Soldat, der
Muskelpanzer, der Charakterpanzer, der in dieser Phase des Krieges
unbedingt
von einer starken Übermacht aufgehalten werden mußte. Sie
warfen der Wehrmacht
in einem letzten verzweifelten Aufgebot die doppelte Menge an Panzern
und die doppelte
Truppenstärke entgegen.
Je näher
der Tag
rückte, desto stärker machte sich das Organisationstalent
unserer Gastgeber
bemerkbar. Da wir die Hälfte der Zeit mit dem Warten auf Busse,
Kontrollen und
verschiedene Ägypter verbracht hatten, mußten Teile des
Programms übersprungen
werden. Nachdem ich aus den ersten Gesprächen erfahren
mußte, daß für sämtliche
40 Teilnehmenden dieses Austauschs Alamein gar nichts zu bedeuten
schien,
begann ich beizeiten, Propaganda zu machen und zu nerven. Ich
erzählte auf die
Nachfragen der türkischen, portugiesischen, italienischen und
libanesischen
Jugendlichen bezüglich Deutschland vor allem über den Zweiten
Weltkrieg und
seine anhaltende Nachwirkung. Gleichzeitig fragte ich die Gastgeber
mindestens
einmal pro Tag, ob wir wirklich nach Alamein fahren. Erst im Nachhinein
wurde
mir klar, daß wenigstens einige von den Ägyptern dachten,
ich würde die
'Deutschen Helden' bewundern wollen. Bis zuletzt hieß es, sie
würden versuchen,
es im Programm zu behalten.
In den
arabischen Ländern
herrscht bis heute eine große Bewunderung der Nazi-Armee. Die
psychologische
Verkürzung zeigt sich dem verblüfften Ägypten-Besucher
in der durchaus häufigen
Formulierung, daß die Deutschen verstanden hätten, wie es
geht: sie haben erst
die Juden umgebracht und wurden dann wohlhabend. Dem möchten nicht
wenige
nacheifern.
Unsere Fahrt
nach
Alexandria - die gesamte restliche Zeit über waren wir in Kairo
untergebracht,
schon weil jede Bewegung aus der Hauptstadt hinaus einen Passierschein
erfordert - schrumpfte von zwei Tagen mit Übernachtung auf einen
Tag
einschließlich An- und Abreise. Gegen Mittag angekommen, fragte
ich unseren
talentierten Organisator Ayman wie jeden Tag, ob wir nun nach Alamein
fahren
und fügte hinzu, daß wir ja wohl nicht mehr näher
herankommen würden. Er
antwortete: „Ich habe mit den Veranstaltern gesprochen und muß
dir leider
sagen, das wird schwierig.“ - „Heißt das also, wir fahren nicht?“
Er setzte wie
gewohnt zu irgendeinem Sermon an, so daß ich lieber dazu
überging, mithilfe eines
anderen Ägypters die Transportlage zu klären. Wir handelten
den nächstbesten
Taxifahrer von 100 Euro auf 300 Ägyptische Pfund runter, weniger
als die Hälfte
und eine Summe, die mir für eine sechsstündige Reise an einen
114 Kilometer
entfernten Ort fair erschien, die ich mir aber gern mit jemandem teilen
wollte.
In
den zwei Schlachten von El Alamein, die aus der Nähe betrachtet um
nichts
weiter als einen Bahnhof geführt wurden, wurde die Wehrmacht
gestoppt - was der
Roten Armee bereits gelungen war; dann jedoch besiegt und zum
Rückzug gezwungen
- was ein weltweites Signal der Hoffnung aussandte. Die Vereinigung der
deutsch-italienischen und japanischen Streitkräfte am Indus und
die
Ausradierung der jüdischen Siedlungen in Palästina war
verhindert, die Nazi-Weltherrschaftspläne
wurden im vielleicht letzten Augenblick durchkreuzt.
Nun
rannte mir die Zeit davon. Es ging auf 14 Uhr zu, sechs Stunden bis zur
Rückfahrt nach Kairo. Wir liefen unterdessen durch die Zitadelle,
die an dem
Ort aufgebaut worden ist, an dem vorher der weltbewunderte Leuchtturm
von
Pharos gestanden haben soll, von dem aber natürlich nichts mehr
erhalten ist.
Alle waren über das verwinkelte Gebäude verstreut. Ich suchte
nach Mitstreitern
und fand keine. Meine predigtartigen Erklärungen über die
erste und
kriegswendende Niederlage der Wehrmacht kamen gegen die Aussicht auf
gruppendynamisches Warten inmitten von nicht mehr existenten
Weltwundern nicht
an.
In der
kollektiven
Erinnerung ist El Alamein hinter Stalingrad und dem D-Day versteckt.
Mehr noch
als jene zeigt diese Schlacht, wie knapp der Krieg gewonnen wurde, was
für eine
Paralysierung die deutsche Tötungsmaschinerie bei den anderen
Nationen
ausgelöst hatte, mit welchem Bewußtsein sich eine
Kriegswende gegen die
deutschen Antikörper richten mußte.
Als auch noch
der
schlaue Libanese, mit dem ich mich im Bus über die von ihm innig
ersehnte
amerikanische Invasion in Syrien unterhalten hatte, absprang, weil er
lieber
die Bibliothek besichtigen wollte, beschloß ich, notfalls auch
allein zu
fahren. Ein nächstes Mal würde auf jeden Fall teurer werden.
Als ich diesen
Entschluß mitteilte, hieß es plötzlich, die
Veranstalter hätten verboten, daß
irgendjemand sich allein so weit von der Gruppe entfernt. Das leuchtete
mir im
Grunde ein - immerhin handelte es sich um eine Jugendveranstaltung. Auf
meine
Frage, wer von ihnen mich nun begleiten würde, gab es jedoch
wieder nur
Absagen. Durchweg lautete die Begründung, daß sie schon mal
dagewesen wären und
es wäre nicht so toll.
Es war nur
ein Bahnhof,
heißt es immer wieder, nur ein Bahnhof. Tausende von Kilometern
lang waren die
Nachschublinien der Briten geworden, während bereits Räder
für den Sieg
rollten, Millionen Reichsbahn fuhren und das synthetische
Aufputschmittel
Pervitin die U-Boot-Besatzungen befähigte, im Mittelmeer und im
Atlantik
tagelang Transporte zu versenken. Es war nur ein Bahnhof. Beinahe auch
hier nur
noch Schönheit, Siege und Lohn. Und der Rest fährt im
Sonderzug zur Endstation.
Ich tat das
einzig
Vernünftige und flippte aus. Laut wies ich darauf hin, daß
Alamein immerhin im
Programm gestanden hatte und es wenigstens einer von ihnen
fertigbringen
konnte, aus Gastfreundschaft mitzufahren. Als Reaktion erschien
zumindest der
pragmatische Wael mit dem teuren Handy plötzlich wie ausgewechselt
und lieh mir
sogar einen Teil des Geldes. Mitfahren wollte natürlich weiterhin
niemand.
Sozusagen Pilgerfahrt: nur ich und Garam, der Taxifahrer.
***
Garam hat vor
der Handbremse eine Schachtel mit
Papiertaschentüchern stehen, die er für verschiedene Zwecke
benötigt. Er hat
einen leichten Schnupfen und schnaubt in die Taschentücher, die
er, wie später
auch einen leeren Pizzakarton, aus dem Fenster entsorgt. Alle zwanzig
Minuten
putzt er die immer wieder neu verstaubenden Außenspiegel. Wenn er
aus dem
ganzen Körper sammelt und dann aus dem Fenster spuckt, gibt er in
ein
Papiertaschentuch, was als Rest hinterherkommt.
Die
NS-Regierung hatte
bereits Siegesfeiern für die Einnahme Ägyptens anberaumt. Wie
schon im Falle
Moskaus 1941, als letztlich Stalins Entscheidung, in der Stadt zu
bleiben, die
sichere Eroberung abwendete, konnte für die willenstrunkenen
Faschisten
eigentlich nichts mehr schiefgehen. Im Vertrauen auf die in jahrelanger
Propagandaarbeit und in vielen Jahrzehnten der Volkszucht
hervorgebrachten
Volksgenossen in Uniform wurden die Feierlichkeiten für die Wacht
am Nil
geplant, für deutsche Grenzüberschreitung, deutsche
Entgrenzung.
Garam hat
sein Leben
lang die deutschen Touristen zu den deutschen Helden gekarrt und ist
einigermaßen
verblüfft, daß ich den deutschen Friedhof gar nicht sehen
will.
Beziehungsweise, daß ich gar nicht weiß, daß es einen
deutschen Friedhof gibt.
Während wir still an den endlosen Reichensiedlungen am
Mittelmeerstrand
entlangfahren, versuche ich mir vorzustellen, warum es einen separaten
Friedhof
zu Ehren der glücklicherweise Besiegten, der Verursacher, der
Verbrecher gibt.
Also sehe ich mir die Obszönität an, ein großes
Stück Kriegerarchitektur voller
Friedensheuchelei und lyrischer Ergüsse über die Ehre und
Menschlichkeit der
hier an ihrem Handwerk endgültig verhinderten
Tötungsfacharbeiter. Ich schreibe
ins Gästebuch: Gedenkt nicht nur ihres sinnlosen Todes, sondern
vor allem ihrer
furchtbaren Taten.
„Ritterlich
war eure
Tat/Menschlich hier das Gesetz“ dichtete die
Kriegsgräberfürsorge trotz der
Eroberung von Raum für die Rassenhygiene, trotz des Kampfes gegen
den Rest der
Menschheit, trotz der Pläne für die völlige
Zerstörung des zionistischen
Projekts. Keine selbstbewußten Kämpfer, sondern
bewußtlose Werkzeuge zur
Durchsetzung eines Kollektivverbrechens, aufgegeilt am Heldentum, an
den heißen
Motoren, am Kraftstoff.
Garam rotzt
zu meiner
großen Freude auf die Treppe des Germanenrondells, dann ist er
erneut
verwundert, wie schnell ich weiter möchte. Der italienische
Friedhof ist
überraschenderweise noch viel größer und prunkvoller,
wiederum abgesehen von
der grundsätzlichen Überraschung, daß es ihn
überhaupt gibt. Die Architektur so
futuristisch wie damals. Hier in der Wüste müssen sie nicht
so tun als ob. Es
gibt einen Kilometer weiter noch einen Extrafriedhof für die
italienische
Luftwaffe. Garam bekommt mit, daß ich auch hier keine
Angehörigen finden wollte
und mustert mich auf dem Weg zurück zum Taxi, während er noch
einige Male auf
die weiße Paradestraße spuckt.
Im Gegensatz
zu meinem
schamerfüllten Opa gilt vielen '42 weiterhin und gerade wieder als
Höhepunkt
der deutschen Entfaltung. Während er nicht nach Afrika wollte,
wären sie
nachträglich gern schlachtentscheidendes deutsches Wesen gewesen.
Lehren
Panzerschulen in der ganzen Welt, daß sich die Panzerkanonen um
das
Schlachtfeld duellieren und die Motoren es besetzen, rückten die
Wehrmachtpanzer meist über Leichen vor.
Auf dem Weg
zum
Commonwealth War Cemetery überzeugt sich Garam mit mehreren Fragen
davon, daß
ich wirklich wegen der siegreichen Briten hier bin und hört sich
nochmals
schmunzelnd an, wie ich sage, daß es hier besser kein deutsches
Ehrenmal geben
sollte.
Die
riesige Gräberfläche der britischen
Gedenkstätte macht greifbar, wieviele Menschenleben geopfert
werden mußten, um
die Nazis aufzuhalten. Die Tafeln sind informationslastig, die Anlage
jedoch
vor allem den gefallenen Einzelnen gewidmet. Sind die
Wehrmachtssoldaten nach
Gauen geordnet unter archaischen Steinplatten beigesetzt, die Italiener
ganz
und gar namenlos im Grab ihrer militärischen Einheit, so gibt es
hier
individuelle Gräber mit individuellen Inschriften, die deutlich
sagen, daß
jeder Tote fehlt, daß er geopfert werden mußte, daß
er nicht hätte sterben
sollen. Auf dem Eingangstor wird gewürdigt, daß sie nicht
umsonst starben: Sie
wendeten den Krieg.
Trotz der
Übermacht
auf britischer Seite war es eine knappe Entscheidung. Die Zigarette
steckt den
Kopf in den Sand. Ist okay für sie, war keine Strategie für
die Briten, no. And another
one bites the dust. I’m a prisoner of
freedom, ten toes in the sand. Wenn sie
über Leichen
gehen, dann nur über unsere Leichen.
Ich laufe
herum und
mache Fotos, Garam fotografiert mich vor dem Denkstein "Their names
liveth
evermore". Ich sage ihm, daß sie das Richtige getan haben,
daß es auf
jeden von ihnen wirklich ankam. Dann gehen wir zurück zum Ausgang
und erst jetzt
sagt Garam, daß ein Verwandter von ihm hier beerdigt ist. Er
wendet sich ab und
geht beiseite, kämpft gegen die Tränen, die dennoch
fließen. Ich bin
verunsichert, mir fällt aber auf, daß er auf diesen Friedhof
nicht gespuckt
hat.
Fern waren
sie, die
Drei von der Kraftstoffstelle, die Wehrmacht auf dem Rückzug
trocknete aus. Die
deutschen Antikörper, festgefahren in der Wüste, die sie
anderen Rassen und
Nationen entreißen wollten, um auch sie zu säubern,
können bis zum Schluß nur
töten. Wie später in Berlin in den letzten Kriegstagen feuern
Panzer ohne Sprit
noch die letzten Granaten ab. Zum Schluß haben sich 42
Länder gegen Deutschland
zusammentun müssen, um es an seinen Plänen zu hindern.
Garam hat vor
der
Handbremse eine Schachtel mit Papiertaschentüchern stehen, die er
für
verschiedene Zwecke benötigt. Für seinen Schnupfen, für
die Außenspiegel, für
die Spucke und für die Tränen. Er hat sein Leben lang die
deutschen Touristen
zu den deutschen Helden gekarrt und später im Taxi, nachdem er
endlich nicht
mehr weint, lange nachdem er mich vor einem Sherman-Panzer fotografiert
hat,
erzählt er, daß seine deutschen Fahrgäste stets nur
ihre Helden sehen wollten,
und wenn sie überhaupt auf den britischen Friedhof gingen, dann
dezidiert zu
den 'Feinden'. Er wollte nie mit und blieb deshalb immer draußen.
Diesmal war
das erste Mal gewesen, daß er mitgekommen war, daß erste
Mal, daß er den
Friedhof besucht hatte.
Wenn alle
ihren Teil
tun, wenn es nur Staatsbürger, Volksgenossen und Gottesliebe gibt,
wird es
immer wieder geschehen. Es funktioniert, weil wir funktionieren. Das
kleine
Glück tanzen, immer das gleiche kleine Glück. Kann ich zu
Diensten sein? Ein
eiskaltes Getränk für ein eiskaltes Volk? Kann ich Ihren
Teller abräumen? Ich
werde Deutschland verraten, schreiben aus dem Bruch mit dem Kollektiv.
Als ich am
Abend
sicher mehr als zehnmal nach meinen Erlebnissen gefragt werde und die
Geschichte erzähle, begreifen die anderen endlich, worum es mir
gegangen war
und bedauern nun doch, nicht hingefahren zu sein. Ich sage, vielleicht
war es
gut so, ich mußte es vielleicht genauso tun.
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Enthält
Samples aus dem Film "Desert
Victory", aus einer Coca-Cola-Werbekampagne in Nazideutschland, aus
einem
Flugblatt der anarchistischen Gewerkschaft FAU sowie aus den Songs
"Sonderzug zur Endstation" von Abwärts, "Another one bites the
dust" von Queen und "Me by the sea" von Edie Brickell & The
New Bohemians.